Eine Kurzgeschichte die ich für mein Seminarfach in der Schule geschrieben habe. Das Thema lautete ‚Unterwegs – wohin?‘. Die Geschichte sollte eigene, aber auch fiktive Aspekte enthalten.
Ein Wunsch um 11:11
Montag, 21:46
Übermüdet streiche ich mir über die schmerzenden Augen. Das stundenlange auf den Computer starren tut mir einfach nicht gut.
Ich nehme mein Handy aus der Jackentasche, während ich zügig zum Aufzug des großen Bürogebäudes gehe.
„Italiener oder Chinese?“, tippe ich, eine kurze Nachricht an Paul, meinen Freund.
Montag, 22:02
Noch immer keine Antwort, also entscheide ich mich kurzerhand für den Italiener ganz in der Nähe unseres Apartments. Die Straßen sind wie leergefegt und überall sehe ich hell erleuchtete Fenster. Ich zittere leicht.
Während ich auf das Essen warte, tippe ich in meinem Handy meine To-Do-Liste für den morgigen Tag. Heute Morgen hat meine Mutter versucht mich zu erreichen, sie muss ich unbedingt zurückrufen. Wichtige Arbeitsemails die beantwortet werden müssen und ich sollte Paul daran erinnern, dass er seinen Anzug zur Reinigung bringt. Den letzten Punkt setze ich leicht genervt auf meine Liste.
Montag, 22:31
Zuhause angekommen esse ich schnell meine Nudeln und erledige meine letzten Aufgaben, wie immer. Paul sitzt auf dem Sofa, schaut fern und tut sonst nichts, wie immer. Unsere Wohnung ist wunderschön, eine Innendesignerin hat die Möbel und Farben ausgesucht, alles passt perfekt zusammen. Trotzdem fühle ich mich hier nicht richtig zuhause, obwohl wir schon seit fünf Jahren hier leben.
Ich habe einen ganz normalen Tag hinter mir. Bin um 6:30 Uhr aufgestanden, habe einen Kaffee getrunken, bin zur Arbeit gefahren, habe oberflächlich mit meinen Kollegen gescherzt und ungefähr zwei Worte mit Paul gewechselt. Die einzige Unregelmäßigkeit ist der Anruf meiner Mutter, normalerweise sprechen wir uns nur an wichtigen Feiertagen und Geburtstagen.
Dienstag, 10:14
„Hallo?“
„Hi, ich bin‘s. Ich habe gesehen, dass du gestern angerufen hast. Ist alles in Ordnung?
„Nein. Ich habe keine guten Nachrichten.“
„Oh, was ist denn los?“
„Dein Vater liegt im Krankenhaus… Es sieht nicht gut aus… Die Ärzte haben einen bösartigen Gehirntumor diagnostiziert…“
„Krebs?!“
„Ja.“
„…“
„…“
Dienstag, 11:13
Zurück zu Hause bei einer Tasse Tee überlege ich, was ich als nächstes tun soll. Ein Berg an Taschentüchern liegt neben mir. Als ich mich etwas gefangen habe, rufe ich meine Chefin an und nehme mir zwei Wochen Urlaub. Sie ist etwas erstaunt. Ich habe noch nie kurzfristig Urlaub genommen. Dann buche ich mir ein Zugticket nach Hannover und fange an meine Tasche zu packen. Es tut gut beschäftigt zu sein.
Dienstag, 15:36
Die Wohnung ist blitzblank. Alle Schränke habe ich aus und wieder ein geräumt, aber mit niemandem gesprochen. Mit wem auch? Die Leute von der Arbeit? Auf keinen Fall. Paul? Seit Ewigkeiten haben wir nicht mehr richtig miteinander gesprochen. Zu meinen alten Schulfreunden habe ich den Kontakt schon vor langer Zeit verloren. Ich kann mich nicht mehr erinnern weshalb, dabei waren wir damals echt gute Freunde. Vielleicht dachte ich, dass sie einfach nicht mehr in mein ‚neues‘ Leben passen. Hatte Paul doch mehr Einfluss auf meine Entscheidungen als gedacht?
Dienstag, 19:43
Jetzt sitze ich im Zug und sehe die Landschaft an mir vorbeifliegen. Wie soll es weitergehen? Wie konnte ich zulassen, dass meine Eltern und ich uns so selten sehen? Ich habe so vieles verpasst. Noch immer frage ich mich, weshalb ich Hannover damals verlassen habe. Für einen Job der mir keinen Spaß macht? Eine ‚bessere Zukunft‘?
Niemals hätte ich gedacht, dass jemand in meinem engsten Kreis tödlich erkrankt. Von so etwas hört man. Liest es in der Zeitung. Aber doch nicht in der Familie.
Mittwoch, 13:53
Ich habe echt Angst die Tür zu Zimmer 238 zu öffnen. Ich weiß nicht genau was mich erwartet. Es ist nur mein Vater, der dort in diesem Zimmer ist. Langsam öffne ich die Tür und bin erleichtert. Eigentlich sieht er genauso aus, wie immer. Am Haaransatz hat er ein großes weißes Pflaster kleben. Wir begrüßen uns mit einer Umarmung. Ich frage ihn, wie es ihm geht. Er lächelt und nickt. Meine Mutter hatte mir schon gesagt, dass er nicht viel spricht. Anscheinend drückt der Tumor auf das Sprachzentrum. Wir unterhalten uns ein bisschen, ich erzähle viel und stelle ‚Ja‘ und ‚Nein‘ Fragen, die er mit einem Kopfschütteln oder Nicken beantwortet.
Samstag, 15:47
Ich bin jeden Tag einige Stunden im Krankenhaus. Diese gemeinsam verbrachte Zeit lässt mich wieder die selbstverständliche Nähe aus meiner Kindheit fühlen. Man hat viel Zeit nachzudenken. Warum bin ich eigentlich noch mit Paul zusammen? Wir haben uns schon seit Ewigkeiten nichts mehr zu sagen. Kurz vor meiner Abfahrt habe ich ihm noch einen kleinen Zettel geschrieben, dass ich zu meiner Mutter fahre. Er hat mich nicht angerufen und ich bin nicht einmal enttäuscht. Eigentlich stört es mich kein bisschen. Bei dem Gedanken mich von ihm zu trennen, fühle ich keine Leere, sondern nur Erleichterung.
Montag, 14:23
Ich sitze in einem Café und schaue auf das Treiben auf der Straße. Ein kleines Kind schreit und ich bin nicht genervt. Dem komplett in rosa gekleideten Mädchen ist ihr Eis heruntergefallen.
Ein großer, leicht schlaksiger Typ in schwarzen Shorts und einem grauen Pullover läuft mit einem breiten Grinsen am Laden vorbei, während er sich mit einem Freund unterhält. Ich hatte ganz vergessen, wie viel Spaß es mir macht, Leute zu beobachten. Zwei Jugendliche umarmen sich zur Begrüßung. Ich lächele vor mich hin.
Mittwoch, 09:15
Ich kann den Anblick des weißen Krankenhauses, mit den Ärzten in weißen Kitteln und den Geruch des Desinfektionsmittels nicht mehr ertragen. Wie viele Stunden habe ich jetzt schon auf diesen ungemütlichen Stühlen verbracht?
Es fühlt sich so an, als ob ich seit Ewigkeiten nicht mehr richtig mit meinem Vater gesprochen habe, obwohl ich ihn in den letzten Tagen täglich gesehen habe. Wird er sich an diese Zeit im Krankenhaus erinnern? Er ist zwar körperlich anwesend und scheint alle Leute, die ihn besuchen, zu erkennen, aber ob er alles versteht, was momentan vor sich geht, weiß ich nicht.
Montag, 11:11
Ich wünsche mir, dass alles gut wird.
Donnerstag, 9:13
Heute beginnt die Bestrahlung und wir alle hoffen, dass sie anschlägt, da der Tumor nicht operabel ist. Mehr als hoffen und Beistand leisten ist momentan nicht möglich. Man fühlt sich hilflos.
Lange Zeit habe ich mich von allem differenziert was mir in irgendeiner Weise Schmerzen verursachen könnte oder kompliziert werden könnte. Habe mein Leben vor mich hingelebt, ohne tiefere Verbindungen einzugehen. Jetzt hat das Chaos mich eingeholt und mich in einigen Aspekten aufgeweckt. Das Leben ist nun einmal nicht einfach, nicht schwarz und weiß.
Samstag, 3:47
Lächelnd laufe ich die dunkle Straße entlang. Nach vielen Jahren habe ich meine besten Freundinnen aus der Schulzeit wieder getroffen. Wir haben uns stundenlang unterhalten, viel gelacht und ein Glas Wein nach dem anderen geleert. Ich bin leicht betrunken. Die Straße glänzt vom Regen und die Schaufenster leuchten hell, obwohl niemand auf der Straße unterwegs ist. Ich bin schon lange nicht mehr so glücklich gewesen. Mir war nicht klar, wie sehr ich das Gefühl von wahrer Freundschaft vermisst habe. Diese wohlige Wärme im tiefsten Inneren.
Sonntag, 21:21
Es langsam geht bergauf, die Bestrahlung scheint erst einmal anzuschlagen, wir wissen aber nicht, was noch alles auf uns zu kommt. Ich bin auf dem Weg wieder zu mir zu finden und suche nach den Dingen, die mich wirklich glücklich machen. Dazu gehören mittlerweile auf jeden Fall auch meine Familie und die Menschen, die mir echte Herzlichkeit zeigen können.